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Predigt zur Feier der Versöhnung im Advent 2015 im BoJe-Verbund



Liebe Mitchristen,
Samstagmorgen, kurz vor acht Uhr, in der Innenstadt von Kassel. Am Abend vorher hatte ich dort einen Vortrag zum Thema "Advent ist eigentlich ganz anders" gehalten. Jetzt wollte ich zur nächsten Veranstaltung, ca. 45 km entfernt, einem Frühstück mit Vortrag für ehrenamtliche Mitarbeiter.
Mein Auto hatte ich für die Nacht in der Tiefgarage des Bildungsforums unterstellen können. "Wenn Sie morgen rausfahren wollen, müssen Sie nur den gelben Knopf an der Säule da drücken, dann geht das Tor zur Ausfahrt auf", hatte mir die zuständige Mitarbeiterin am Abend vorher erklärt. Ich manövrierte mein Auto vorsichtig an diese Säule, drückte den gelben Knopf - aber nichts geschah. Ich wartete ein wenig, drückte noch einmal, diesmal etwas kräftiger - nichts geschah. Ein letzter Versuch - aber vergeblich.
Ich griff zu meinem Handy, um die Mitarbeiterin anzurufen - zum Glück hatte sie mir ihre Telefonnummer gegeben... aber natürlich hatte ich keinen Empfang. Ich war ja in einer Tiefgarage. Seufzend fuhr ich vorsichtig mein Auto etwas zurück, stellte es an der Seite ab - und ging über das Treppenhaus zurück zur Straße.
Ja, sie würde sofort den Hausmeister anrufen, sagte sie. Und da stand ich dann und wartete. Und ich muss gestehen, dass in diesen Minuten das Adventslied "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit" für mich eine vollkommen neue Bedeutung bekam. Mir wurde auf einmal klar, wie sehnsüchtig man darauf warten kann, dass ein verschlossenes Tor sich endlich öffnet - und sei es nur das Tor zur Ausfahrt der Tiefgarage. Eine Viertelstunde später war die Mitarbeiterin selbst da. Sie hatte es nicht nur einfach an den Hausmeister weitergegeben, sondern war selbst gekommen. Und ich gebe zu - ein bisschen erleichtert war ich schon, als ich sie sah. Zusammen mit ihr würden wir das Problem schon lösen!
Wir gingen um das Haus herum, sie hielt einen Chip an eine kleine weiße Box - und, o Wunder, das Tor öffnete sich! Vorsichtshalber hielt sie noch Wache, bis ich mit meinem Auto draußen war - alles war gut.
Und was hat das jetzt alles mit der Feier der Versöhnung und dem Jahr der Barmherzigkeit zu tun?
Manchmal sitzen Menschen fest, sind in etwas gefangen, können sich selbst nicht mehr helfen. Da hat einer seinen Lebenspartner verloren - und kommt alleine nicht mehr klar. Ein anderer musste seine Heimat verlassen, auf die Flucht gehen - und ist heimatlos. Da hat einer die Diagnose "Krebs" bekommen, da liegt jemand krank im Bett und hat niemanden, der nach ihm schaut, da hat einer Hunger und niemand gibt ihm was zu essen. Es sind Situationen, in die man kommen kann, an denen man keine Schuld hat, für die man nichts kann - und in denen man sich einsam, verlassen, verloren und hilflos vorkommt. Es sind Situationen, in denen man keine Türen mehr sieht, die hinausführen - und die Tore, die man sieht, sind verschlossen. Ich bin in etwas gefangen - und sehe keinen Ausweg mehr. Und alleine komme ich da nicht raus. Da brauche ich jemanden, der mir die Tür zeigt, der mir das Tor öffnet, und der bei mir bleibt, bis ich wieder alleine gehen kann.
Und das ist durchaus eine christliche Aufgabe - also eine Aufgabe für uns Christen. Das ist genau das, was mit dem Wort "Barmherzigkeit" gemeint ist. Sich derer erbarmen, die mein Erbarmen nötig haben, die es schwer haben, die es im Moment vielleicht alleine nicht mehr schaffen. Sich derer erbarmen, die gefangen sind, die krank sind, die hungern, die ihre Heimat verloren haben. Und so haben sich im christlichen Bereich die klassischen "Sieben Werke der Barmherzigkeit" herauskristallisiert: Hungernde speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und Tote bestatten. Und vielleicht haben Sie die Worte vom Evangelium eben noch im Ohr. Da sagt Jesus: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Was ihr getan habt... und nicht: Was ihr an andere delegiert habt! Wofür ihr euch verantwortlich fühlt - und eben nicht: Da sind andere für zuständig! Wo ihr selbst Hand anlegt - und eben nicht: Da bezahl ich doch andere dafür, dass sie das machen! Barmherzig zu sein heißt: Das Leid der anderen mitleiden! Es mir nicht vornehm vom Hals halten, sondern selbst was tun!
Und wir sollen, dürfen und können barmherzig sein, weil Gott selbst barmherzig ist, weil er mit uns barmherzig ist! Weil er sich unser erbarmt!
Wenn wir anderen gegenüber barmherzig sind, dann geben wir eigentlich nur das weiter, was wir selbst von Gott auf uns hin erfahren haben! Das ist Weihnachten. Gott wird Mensch, kommt mitten hinein in all unsere Erbärmlichkeiten, er erbarmt sich! Er öffnet die Türen und Tore, die uns vom Leben trennen. Er kommt, geht mit, hält aus, wartet - bis wir wieder selbst gehen können. Und weil wir das erfahren und erleben dürfen, können und sollen wir das auch weitergeben!
Am 8. Dezember hat Papst Franziskus die Heilige Pforte in Rom geöffnet - anlässlich des Jahres der Barmherzigkeit als "Pforte der Barmherzigkeit". Auch im Osnabrücker Dom wird es eine "Pforte der Barmherzigkeit" geben - und sogar in Heede. Im Gegensatz zu früheren "Heiligen Jahren" wird es nicht nur eine Pforte in Rom geben, sondern Pforten der Barmherzigkeit öffnen sich in Diözesankathedralen und überregionalen Wallfahrtsstätten. Das ist ein starkes Symbol! Wir alle sind angefragt, selbst durch das Tor der Barmherzigkeit hindurch zu gehen - und es für die anderen zu öffnen. Weil Gott selbst uns dieses Tor geöffnet hat!
Macht weit die Tor! Das ist die Einladung des Advents. Ein König ist's, der Einzug hält. Sein Zepter ist Barmherzigkeit... und wenn wir ihm nachfolgen, wenn er auf uns abfärbt, dann werden wir selbst barmherzig sein und werden - und Tür und Tor öffnen!
Okay... der gelbe Knopf an der Säule in der Tiefgarage in Kassel sollte sicherlich überprüft und repariert werden. Und es geht nicht nur darum, irgendwelche Menschen durch irgendwelche verschlossenen Türen hindurch zu lieben. Es bleibt schon auch die Frage zu stellen, warum manche Türen verschlossen sind und ob man sie nicht grundsätzlich öffnen könnte und müsste.
Trotzdem - jetzt das tun, was zu tun ist. Und die spannende Frage bleibt:
Haben wir das getan, was zu tun ist?
© Andrea Schwarz